Uncategorized

[REZENSION] Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge (OT: Vivement l’avenir)
Autor: Marie-Sabine Roger
Illustrator: -/-
Übersetzer: Claudia Kalscheuer
Verlag: Hoffmann und Campe
Reihe: -/-
Ausführung: Hardcover, 240 Seiten

Autor:
Marie-Sabine Roger wurde 1957 in Bordeaux geboren, lebte lange in Südfrankreich und ist 2011 nach Kanada umgezogen. Sie arbeitete einige Jahre als Grundschullehrerin, ehe sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Ihr letzter Roman “Das Labyrinth der Wörter” wurde in Frankreich und Deutschland ein Bestsellererfolg. Das Buch wurde mit dem Prix Lycéens des Allemands und dem Prix Inter-CE ausgezeichnet und mit Gérard Depardieu und Gisèle Casadesus in den Hauptrollen verfilmt.

DER POET DER KLEINEN DINGE

“Der Poet der kleinen Dinge” ist klein an Umfang, aber groß im Inhalt:
Marie-Sabine Roger erzählt hier die Geschichte der Lebenskünstlerin und Herumtreiberin Alex, die nie lange an einem Ort bleibt, dem Behinderten Gérard “Roswell”, dem Bierdosenweitwerfer Olivier und dem melancholischen Cédric.
Alex wohnt zur Untermiete bei Gérards Bruder und dessen Frau und schließt den schrägen Poeten Gérard, den sie Roswell nennt, weil er sie in seiner Art an einen Außerirdischen erinnert, schnell in ihr Herz, obwohl sie normalerweise darauf achtet, nicht zu viele Gefühle in einen Ort oder Personen zu investieren, damit ihr das Weiterziehen nicht schwer fällt. Doch der hilflose, aber unheimlich liebenswerte Gérards ist im Haushalt seines Bruders nur ein Klotz am Bein, kein geliebtes Familienmitglied. Für seinen Bruder war er bereits in Kindertagen eine Belastung, dessen Frau redet sogar ernsthaft davon ihn auszusetzen, das rührt an Alex’ Herz und lässt sie ihre Prinzipien über Bord werfen. Das ungleiche Gespann zieht bald gemeinsam zu Spaziergängen los und lernt dabei zwei weitere Außenseiter kennen: Olivier und Cédric.
Anhand unterschiedlicher Charaktere zeigt die Autorin, wie wichtig es für ein erfülltes Leben ist, Freude an den kleinen Dingen zu empfinden: schönen Gedichten, Liedern, die man voller Inbrunst schmettert oder frischem Popcorn aus der Pfanne. Oder, wie Alex’ Freundin Clo es beschreibt: man muss das Leben in Geschenkpapier verpacken, kleinen Dingen Raum geben und das Leben auch ohne besonderen Anlass feiern.
Rogers Roman ist eine kleine, aber ganz besonders feine und liebevolle Liebeserklärung an das Leben aus der Perspektive von vier Außenseitern der Gesellschaft, die entweder keinen festen Platz in der Gesellschaft finden wollen, finden können oder nicht wissen, wie ihre Zukunft aussehen soll. Gérards Schwägerin Marlène ist nochmal ein anderer Fall. Sie ist abgrundtief verbittert durch Tiefschläge, zerplatzte Träume und verpasste Chancen, so dass sie darüber die schönen Seiten des Lebens gar nicht mehr sieht. Alex agiert in der Geschichte ein bisschen wie die gute Fee, die nicht nur einen Plan schmiedet, wie Gérard – noch – mehr Lebensfreude genießen kann, sondern auch den Zukunftsplänen ihrer beiden anderen ungewöhnlichen Freunde und Gérards Familie einen Fingerstups in die richtige Richtung gibt…
Zunächst wirken die Figuren in Rogers Geschichte sehr kantig und verschroben. Obwohl die Geschichte abwechselnd aus den Ich-Perspektiven von Alex und Cédric erzählt wurde, hat es doch einige Kapitel gedauert, bis ich mit den Figuren wirklich warm wurde. Roger spielt hier mit Klischees und der Veranlagung der Menschen, sich rein auf Grund von Äußerlichkeiten ein Bild zu machen. Alex wirkt mit ihren Piercings, ihrem jungenhaften Aussehen und ihrer verschlossenen Art zunächst nicht wie “die Märchenfee”, zu der sie im Lauf der Geschichte mutiert und Behinderte, Tagträumer, Gammler und Arbeitslose stoßen ebenfalls auf Ablehnung oder ernten zumindest einen schiefen Blick, der oftmals der erste und einzige bleibt. Sehr schnell schwenkt die Stimmung jedoch ins Positive über, die Charaktere schleichen sich ins Herz des Lesers. Roger schafft diesen Umbruch, ohne sentimental zu werden, sie schreibt so wahr, so schön vom Leben, dass sich einem manchmal fast ein Tränchen beim Lesen in die Augen stiehlt. Nach dem für mich etwas schleppenden und eckigen Beginn, beim ersten Wechsel der Ich-Perspektiven geriet mein Lesefluss ganz kurz ins Stocken, hat sich die Geschichte hinter dem schlichten Einband als ein so wunderbar poetisches Buch entpuppt, dass ich sie über der letzten Seite mit einem wohligen und warmen Gefühl zugeschlagen habe.

Die Einstellung der Protagonisten zum Leben hätte kaum unterschiedlicher ausfallen können, und doch war jede in ihrer Art absolut nachvollziehbar. Ein bisschen lässt sich die Lebensanschauung der Personen mit einem Schichtdessert vergleichen:
In einem Schichtdessert sind auch mal unbekannte Komponenten enthalten, oder Zutaten, die man weniger mag als andere.
Alex ist neugierig auf alles neue, sie will ihr Leben genießen und soviel kennenlernen, wie nur möglich ist.
Olivier will von dem Dessert nur satt werden. Sein Leben ist nicht erfüllt oder glücklich, aber er hat Sicherheit und Routine.
Cédric hat Chancen, die er aber nicht nutzen kann, vor allem, weil er nicht weiß, was er sich wirklich vom Leben erwartet. Sein Vater ist der Meinung, er soll es einfach leben, er soll irgendeine Arbeit annehmen, aber Cédric will nicht arbeiten gehen, nur um zu ÜBERleben, er will ein erfülltes Leben… Lieber lässt er den Nachtisch stehen, bevor er etwas isst, das ihm nicht schmeckt.
Marlène ist so verbittert, dass sie nicht mal die Bestandteile genießen kann, die ihr schmecken: der Genuss wird ihr vergällt durch den bloßen Gedanken an den verhassten Geschmack der anderen Dinge.
Eigentlich ist Gérard trotz seiner Einschränkungen der glücklichste Mensch in der Geschichte: er genießt alles mit einer Unschuld und Freude, die sonst nur Kindern eigen ist, er ist darum zu beneiden! Den anderen fehlt diese Unbekümmertheit und Sorglosigkeit fast völlig, nur Alex hat sie sich in Grundzügen bewahren können…

Ich glaube, das wird für mich das Bild des Glücks bleiben. Es mag bescheuert klingen, aber nachdem ich meinen ersten Schock überwunden habe, kommt es mir jetzt manchmal so vor, als wäre Gérard normal und wir die Behinderten.
Wenn man auf die dreißig zugeht, hat man in der Regel gelernt, sich zurückzunehmen. Wenn man sich gehenlässt wie ein kleines Kind, gilt man sofort als durchgeknallt.
Probieren Sie es mal aus, Sie werden schon sehen!
Kann man sich in unserem Alter noch einen Grashang runterrollen? Auf dem Spielplatz auf Rutschbahnen und Karusselle steigen? Den Mund aufsperren, wenn er voll ist, um zu zeigen, was drin ist, so wie wir das in der Schulkantine hinter dem Rücken der Aufpasser gemacht haben? Kann man mit beiden Füßen in Pfützen springen? Den Mädchen die Röcke hochheben, ohne dass es gleich strafbar ist? Auf der Straße in Indianergeheul ausbrechen? Sich die Ohren zuhalten und Na-na-na-na-na rufen, um jemandem nicht zuhören zu müssen? Leuten, die nerven, die Zunge rausstrecken? Laut sagen: “Hast du die dicke Frau da gesehen?” Kann man sich in eine Ecke hocken und schmollen, den Kopf tief in der Ellenbeuge vergraben? Jemanden treten oder an den Haaren ziehen? Liebesbriefchen schreiben mit Herzchen drum rum und einem Radiergummi oder einem Bonbon als Pfand dazu?
Manchmal sage ich mir: Erwachsen werden bedeutet, für immer das Recht zu verlieren, Spaß zu haben. S.192f

Tagged , , ,

4 thoughts on “[REZENSION] Der Poet der kleinen Dinge

    1. Ich habe "Das Labyrinth der Wörter" noch ungelesen hier liegen, aber das werde ich auf jeden Fall auch noch lesen. Eine Bekannte von mir war von beiden Büchern total begeistert.

  1. Oh, das tönt wirklich nach einem schönen und speziellen Buch. Den Titel muss ich mir merken.

    LG Favola

    Ps. Ich bin mit meinem Blog zu Blogger umgezogen und habe dich gleich in meinen Blogroll aufgenommen . . .

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert