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[REZENSION] Vollendet

Titel: Vollendet (OT: Unwind)
Autor: Neal Shusterman
Illustrator: -/-
Übersetzer: Ute Mihr
Verlag: Sauerländer
Reihe: Band 1
empfohlenes Lesealter: 14-17 Jahre
Ausführung: Hardcover, 432 Seiten

Autor:
Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, schrieb seine ersten Geschichten bereits zu Schulzeiten. Er studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften, mittlerweile widmet er sich ganz dem Schreiben von Jugendbüchern und Drehbüchern für Fernsehserien und Spielfilme.

VOLLENDET

Charta des Lebens

Der Zweite Bürgerkrieg, auch bekannt als „Heartland-Krieg“, war ein langer, blutiger Konflikt um eine einzige Streitfrage.
Um den Krieg zu beenden, wurden mehrere Zusätze zur Verfassung verabschiedet: die „Charta des Lebens“.
Beide Streitmächste, die Abtreibungsgegner und die Abtreibungsbefürworter, erklärten sich mit der Charta einverstanden.
Nach der Charta des Lebens ist das menschliche Leben von der Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Kind dreizehn Jahre alt wird, unantastbar.
Im Alter zwischen dreizehn und achzehn Jahren können Eltern ein Kind rückwirkend „abtreiben“…
… unter der Bedingung, dass das Leben des Kindes „streng genommen“ nicht endet.
Der Vorgang, mit dem das Leben eines Kindes abgeschlossen wird, das Kind aber dennoch am Leben bleibt, wird Umwandlung genannt.
Die Umwandlung ist inzwischen eine gängige Praxis in der Gesellschaft.

Kritik:
Das Buch ist in sieben Teile untergliedert. Im ersten Teil des Buches lernt der Leser drei Kinder und Jugendliche kennen, die umgewandelt werden sollen. Bei Connor haben sich die Eltern zu diesem Schritt entschlossen, weil sie nicht mehr mit ihm zurechtkommen, Risa ist eine Waise, die nicht mehr länger im Waisenhaus versorgt werden kann, weil dem Staat die nötigen Mittel fehlen, dann Jahr für Jahr werden weitere ungewollte Kinder „gestorcht“ (ausgesetzt) und Lev ein Zehntopfer seiner streng gläubigen Eltern, die seine Umwandlung als Opfergabe an Gott bereits vor seiner Geburt beschlossen haben.
Die Idee mit der Umwandlung, die vom Gesetz nach der „Charta des Lebens“ beschlossen wurde, fand ich vor allem deshalb schrecklich und grotesk, weil sie – außer bei den Waisen oder gestorchten Kindern – von den leiblichen Eltern beschlossen wird. Man stelle sich das einmal vor: man hat sein Kind 13-17 Jahre um sich gehabt und gibt dann seine Einstimmung zu so einem Eingriff?
Bei seinem eigenen Fleisch und Blut?
Da die Handlung abwechselnd aus allen drei Perspektiven erzählt wird (Connor, Risa, Lev), fühlt man sich eigentlich allen Protagonisten sehr nahe, obwohl sie vom Charakter absolut unterschiedlich sind.
Bereits der erste Abschnitt bietet einige Szenen, die einen als Leser nur fassungslos den Kopf schütteln oder einen beinahe körperliche Überkeit empfinden lassen.

Ich fand das Szenario wesentlicher schrecklicher als in so manchem blutigen Thriller, weil vieles zum Nachdenken anregt und über das Leben philosophiert wird, und das, was uns eigentlich ausmacht. Und, wie bereits eingangs erwähnt, im Normalfall die eigene Familie darüber richtet, wer zum Schafott antreten muss.
Im weiteren Verlauf der Geschichte trennen sich die Wege unserer drei Jugendlichen Hauptakteure und es werden immer weitere Nebencharaktere eingeführt, die entweder im weiteren Verlauf noch eine wichtige Rolle spielen, oder insofern, dass an ihnen deutlich gemacht wird, was es genau mit „vollendeten“ bzw. umgewandelten Menschen auf sich hat. Zu den Nebencharakteren wird zu Beginn häufig eine Distanz gewahrt, damit will der Autor verdeutlichen, wie wenig der einzelne Charaktere zählt, nur die „Bauteile“ jedes Menschen bekommen eine Wertung zugeteilt. Dies wird zum einen deutlich daran, dass alle Waisenkinder den Nachnamen „Ward“ erhalten (dt. Mündel) oder wohlhabende Bürger sich bessere Körperteile leisten können als die breite Masse. Wer ein neues Ohr braucht, und nur wenig Geld hat, muss notfalls mit einem tauben Ohr vorlieb nehmen, aber ein taubes Ohr ist immer noch besser als gar kein Ohr. Nebencharaktere bekommen erst dann Persönlichkeit eingehaucht, wenn sie für die Geschichte wichtig werden, andere treten nur am Rande auf und verblassen schnell wieder, von etlichen erfährt man nicht einmal den Namen.
Man erlebt eingesetzte Körperteile auf unterschiedliche Art und Weise in ihrem „zweiten Leben“. War die Vorstellung einer Umwandlung zu Beginn schon furchtbar, so verstärkt sich das Grauen im Laufe der Geschichte immer mehr, weil man nicht nur mehr davon liest, sondern die Folgen erlebt.
Neal Shusterman ist ein gnadenloser Voyeur beim Betrachten seiner Figuren. Im Mittelteil der Geschichte ist er noch relativ verhalten, aber das Grauen steigert sich von Mal zu Mal. Auch wenn ich oft dachte, es kann nicht mehr schlimmer kommen, hat mich der Autor mehrfach mit seinen Ideen und geschilderten Episoden geschockt und aus der Bahn geworfen.
Im Original wird bald eine lose Fortsetzung zu diesem Buch erscheinen. Auch, wenn das Ende für mich ein richtiges Ende ist – oder vielleicht auch gerade deswegen – habe ich großes Interesse daran eine Fortsetzung zu lesen, denn wie ich Neal Shusterman hier kennenlernen durfte, denke ich, dass er seine Ideen nicht nur fortspinnt, sondern weitere neue Aspekte und Gedankenanregungen in den zweiten Band einfließen lässt.

Eine Anmerkung noch: ich persönlich würde das Buch nicht ab 14, sondern erst ab 18 Jahren empfehlen. Sicher sind einige Jugendliche so reif, diesen Stoff zu lesen, zu verstehen und vor allem zu verarbeiten, aber ich würde dann eventuell Eltern empfehlen vorher in dieses Buch rein zu lesen (oder am besten ganz zu lesen, bis auf die jugendlichen Protagonisten ist es in meinem Augen nämlich absolut geeignet für erwachsene Leser, und das junge Alter der Protagonisten ist ein unabdingliches Muss für die Geschichte).

Aufmachung:
Zunächst wirkt der silbern-glänzende Einband einfach nur imposant und als Eyecatcher, wenn man in die Thematik jedoch eingestiegen ist, wirft er ganz andere Gedanken auf. Im Vergleich zur Umwandlung (das Leben wird abgeschlossen, aber die einzelnen Teile leben getrennt weiter) wirkt der Einband nun auf mich so, als hätte man aus einem Organismus etwas Neues gefertigt. Auf den ersten Blick wirkt die Idee ganz toll und schön, aber auf den zweiten Blick sieht man, dass die umgewandelten Teile nicht mit dem ursprünglichen Wesen mithalten können, alles ist verkratzt und verschrammt, es ist etwas beschädigt worden.

Fazit:
„Vollendet“ – ein schockierendes Buch mit einer gar nicht so abwegigen Zukunftsvision, dass den Leser noch tagelang in Gedanken beschäftigt. Ist der Mensch nur so viel Wert wie die Summe seiner „Teile“? Ist ein beeinträchtigter Mensch, sei es geistig oder körperlich, dann weniger Wert, weil seine Teile weniger einbringen? – Das Buch ist mehr als die Summe seiner Seiten, und ein Mensch ist mehr wert, als seine Organe und Körperteile, nach der Lektüre ist nur zu hoffen, dass sich die Gesellschaft nie so weit entwickeln wird, wie Neal Shusterman es in seinem Szenario ausmalt. Wobei den sieben Teilen des Buches einige Szenen vorangestellt sind, die sich tatsächlich schon so ereignet haben (Versteigerung einer Seele auf eBay, Rauben von Säuglingen zur Organspende).
Ich war am Ende wie vor den Kopf gestoßen und irgendwie auch angeekelt und abgestoßen. Wer im Mittelteil schon meint, die Schilderungen des Autors nicht weiter ertragen zu können, sollte das Buch lieber nicht beenden, auch wenn das Ende in mancher Hinsicht hoffnungsvoll stimmt. Alle anderen sollten sich dieses Highlight dystopischer Literatur auf keinen Fall entgehen lassen!

Reihen-Info:
Vollendet (UnWind)
UnStrunk (#1.5 – 2012)
UnWholly (#2 – 2012)
UnBroken (#3 – noch ohne Erscheinungstermin)

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3 thoughts on “[REZENSION] Vollendet

  1. Pingback: [DOPPELREZENSION] Vollendet – Katze mit Buch

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