Redakteur: Anette Leister
Autor: Jandy Nelson
Übersetzer: Catrin Frischer
Verlag: cbt
Reihe: -/-
empfohlenes Lesealter: ab 14 Jahre
Ausführung: Hardcover, 480 Seiten
Jandy Nelson ist wie Noah und Jude in einem abergläubischen Haushalt aufgewachsen. Schon als kleines Mädchen wurde ihr beigebracht, wie man vierblättrige Kleeblätter aufstöbert; sie klopft auf Holz, wirft Salz über die Schulter und trägt Glücksbringer mit sich herum. Ihr Debüt „Über mir der Himmel“ stand auf mehreren Bestenlisten und wurde ein großer internationaler Erfolg. Ihr zweiter Roman „Ich gebe dir die Sonne“ ist New York Times-Bestseller, die Filmrechte sind an Warner Brothers verkauft, er stand ebenfalls auf mehreren Bestenlisten und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Printz Award. Derzeit lebt Jandy Nelson in Kalifornien – nicht weit von den Schauplätzen aus „Über mir der Himmel“ und „Ich gebe dir die Sonne“ -, wo sie sich ganz dem Schreiben widmet.
ICH GEBE DIR DIE SONNE
„Ich gebe dir die Sonne“ ist nach „Über mir der Himmel“ der zweite Roman von Jandy Nelson. Hauptcharaktere sind die Zwillinge Noah und Jude – NoahundJude – die im Alter von 13 Jahren unzertrennlich sind, obwohl sie kaum unterschiedlicher sein könnten. Drei Jahre später sind die beiden jedoch entzweit, in der Zwischenzeit ist etwas passiert, dass das Leben der beiden zerstört hat, sie sprechen kaum noch ein Wort miteinander und es scheint, als hätten die beiden die Rollen getauscht. Wo Noah im Alter von 13 Jahren der kreativere und introvertiertere der beiden Zwillinge war und Jude die draufgängerische, so ist es heute genau umgekehrt. Jude studiert an der Kunsthochschule, von der Noah immer geträumt hatte, Noah hingegen malt seit dem Zwischenfall, der die beiden entzweit hat, gar nicht mehr. Die Geschichte wird im Wechsel erzählt von Noahs dreizehnjährigem und Judes sechzehnjährigem Ich.
Mir erging es so, dass ich jeweils dem Ich-Erzähler und introvertierterem Part der beiden näher war, also dem 13 Jahre alten Noah und der 16 Jahre alten Jude. Der jeweils draufgängerische Zwilling blieb für mich unnahbar und unverständlich in seinem Verhalten. Zueinander – und damit für den Leser zugänglich – finden die unterschiedlichen Zwillingshälften erst im Laufe der Geschichte und mit dem Offenbaren des Familiengeheimnisses, welches zum Bruch zwischen den beiden geführt hatte. Jandy Nelson schafft es dieses bis zum Ende hin im Dunklen zu lassen. Bis dahin erschafft sie eine emotionale Achterbahnfahrt mit interessanten Haupt- und Nebenfiguren und einigen übersinnlichen Phänomenen, die das Ganze jedoch nicht ins Fantastische abtriften lassen, vielmehr ist es so, dass Jude einen Draht zu ihren verstorbenen Familienmitgliedern hat. Ihre Mutter zerstört scheinbar aus Zorn ihre Töpferarbeiten an der Kunsthochschule, Aberglauben und Weisheiten ihrer Großmutter begleiten ihre täglichen Gedanken.
Wie können Leute sterben, obwohl man gerade Streit mit ihnen hat? Obwohl absolut nichts geklärt ist?Willst du dich mit einem Familienmitglied aussöhnen, so halte eine Schüssel in den Regen, bis sie sich füllt, dann trinke das Wasser beim ersten Sonnenstrahl nach dem Regen.(S.221)
„Ich gebe dir die Sonne“ liest sich nicht einfach so weg… Noah und Jude sind manchmal anstrengende Charaktere, die es dem Leser nicht einfach machen sie zu mögen oder wenigstens zu verstehen. Daneben wird die Aufmerksamkeit auch gefordert durch die verschiedenen Nebencharaktere, die eine wichtige Rolle in Noahs und Judes Leben spielen. Hier liegt das Augenmerk vor allem auf dem Jungen, in den Noah sich mit dreizehn verliebt, und einem Bildhauer und seinem Modell, auf die Jude im Alter von sechzehn trifft. Nicht nur die Schicksale der Zwillinge sind miteinander untrennbar verwoben, auch die anderen Charaktere sind auf die eine oder andere Art miteinander verbunden, doch wie das Geheimnis, welches die Zwillinge entzweit hat, werden die Fäden, die die anderen Charaktere miteinander verbinden, erst am Ende der Geschichte entwirrt.
Von der Komplexität der Charaktere und der Entwicklung der Figuren ist Jandy Nelsons Roman sehr anspruchsvoll, die eigentliche Handlung – soweit man bei diesem Buch überhaupt von einer tatsächlichen Handlung sprechen kann – wird dabei fast zur Nebensache. Allzu viel kann und mag ich darüber in der Rezension deshalb nicht erzählen, das Buch lebt von seinen Figuren, die jeder Leser selbst kennen- und liebenlernen muss. Der Roman ist somit in erster Linie Lesern zu empfehlen, die ihr Augenmerk auf ausgefeilte Charakterstudien legen. Diese werden dafür von Noah und Jude umgehauen, zudem Jandy Nelsons Roman so sprachgewaltig daherkommt, wie man es selten in der Jugendliteratur erlebt.
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