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[REZENSION] Rai, Edgar – Nächsten Sommer

Edgar Rai
Nächsten Sommer
Verlag: Aufbau – Gustav Kiepenheuer
236 Seiten, Klappenbroschur
ISBN-10: 337800696X
ISBN-13: 978-3378006966

Was ist das Leben?
Eine Wundertüte?
Eine Losbude mit zu vielen Nieten?
Kleines Drama oder großes Kino?

“Das Leben ist eine Wundertüte.” Entschuldigend fügt sie hinzu: “Hab ich mal gelesen.”
“Eher ein Überraschungsei”, überlegt Zoe. “Solange man die Gadgets zusammenbastelt und sich die Schokolade in den Mund stopft, freut man sich wie ein Kind. Doch sobald man fertig ist und das Ei gegessen hat, stellt man fest, dass das Spielzeug nicht funktioniert und die Schokolade nur zwei Dinge bewirkt: Hunger nach mehr und Hüftspeck.”

Die Freunde Felix, Marc und Bernhard wollten eigentlich nur zusammen fernsehen, doch am nächsten Morgen sitzen sie in Marcs VW-Bus in Richtung Südfrankreich. Ihr Ziel ist das Haus, das Felix von seinem Onkel geerbt hat.
Felix war Zeit seines Lebens ein Außenseiter, ein Mathegenie, ein Junge, der unter einem lieblosen Elternhaus und einem strengen Vater zu leiden hatte, einer, der selbst heute nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. Er lebt in einem Bauwagen mit seinem Kater, der bezeichnenderweise “Hit and Run” heißt. Sein bester Freund Marc ist das genaue Gegenteil von ihm: begnadeter Musiker, Frauenschwarm und Lebenskünstler.
Bernhard ist der Mutti-Typ: peinlich saubere Wohnung, Bierflaschen müssen auf Untersetzer gestellt werden, damit sie keine Kondenzwasserränder auf dem Glastisch hinterlassen. Die schwere Krankheit seiner Mutter engt ihn ein, legt ihm Zwänge auf, ihr Tod wäre eine Erlösung für ihn. Er ist heimlich verliebt in die Karrierefrau Zoe, die versucht sich den dicksten Fisch im Teich zu angeln und unglücklich mit ihrem verheirateten Chef liiert ist.
Auf der Fahrt stoßen noch die lesbische Anhalterin Lilith und die traurige Französin Jeanne zu ihnen. Sie werden von der Polizei gejagt und einmal blicken sie sogar dem Tod ins Auge. Je länger die Fahrt dauert, desto gewisser ist sich der Leser: “Nicht das Ziel ist das Ziel, sondern der Weg dahin.” Denn im Gegensatz zu den ausführlich geschilderten Reisetagen fallen die Ankunft in Frankreich und der anschließende Abschied der Freunde verhältnismäßig kurz aus.
5 Tage dauert die Reise, abwechselnd reflektieren die sechs ihr Leben, man bekommt Einblicke in ihre Vergangenheit und hinterfragt sich oft, wie solch unterschiedliche Typen über Jahre hinweg ihre Freundschaft erhalten konnten.

Als wir die Stadt verlassen, uns auf der Avus nach Süden wenden und die verwaisten Tribünen passieren, stellt sich zum ersten Mal diese besondere Aufbruchsstimmung ein. Nur dass bei mir Aufbruch Abschied heißt. Marc hat den Beifahrersitz so montiert, dass man mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt. So sehe ich nie, was auf uns zukommt, sondern nur, was bereits hinter uns liegt. Wie meine Großmutter früher, den Blick immer in die Vergangenheit gerichtet. Vielleicht, denke ich, passiert das bei jedem irgendwann – dass sich der Sitz dreht und man nicht mehr nach vorne sieht, sondern nur noch nach hinten. Eine Frage des Alters. Oder der Einstellung. Vielleicht.

Erzählt wird die nur 5 Tage währende Reise aus der Ich-Perspektive von Felix. Die 5 Tage sind gekennzeichnet durch Buchabschnitte, die jeweils von einem Song-Zitat eingeleitet werden. Am ersten Tag ist das Thomas D.s “Rückenwind” bevor die Freunde in den nächsten Tagen dank Marc fast ausschließlich Jack Johnson zu hören bekommen.
Nachdem ich das Buch beendet hatte, habe ich die im Buch erwähnten Lieder gehört und konnte mir den gen Südfrankreich fahrenden Bus danach noch besser vorstellen. Überhaupt ist die Geschichte wie geschaffen für ein melancholisches sommerliches Kopfkino, das Cover perfekt zum Inhalt gewählt, und man wünscht sich nach dem Lesen eigentlich nichts sehnlicher, als das dieser orangefarbene Bus wirklich losfahren würde mit einem selbst an Bord.

Irgendwann kam dann die Sache mit “Nächsten Sommer” auf. Ich glaube, es war Bernhard, der uns von seinem Vorhaben erzählte, den Marathon mitzulaufen, und zwar in unter drei Stunden dreißig.
“Wann soll´n das passieren”, fragte Marc, “in deinem nächsten Leben?”
“Nein”, antwortete Bernhard entschieden, “nächsten Sommer.”
Seit diesem Tag war “Nächsten Sommer” das Synonym für “passiert sowieso nie”.

Eine 5 Tage währende Momentaufnahme aus dem Leben von sechs Menschen, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Ein Plädoyer dafür, seine Zwänge abzustreifen, Alltag und Sorgen einfach hinter sich zu lassen. Vielleicht muss es ja nicht immer ein Bus nach Südfrankreich sein, vielleicht reicht es ja schon statt einer Niete mit diesem Buch das große Los gezogen zu haben.

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