Redakteur: Anette Leister
Autor: Antje Wagner
Verlag: Beltz
empfohlenes Lesealter: ab 15 Jahren
Ausführung: Hardcover, 408 Seiten
Antje Wagner, geboren 1974, studierte deutsche und amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften und lebt in Hildesheim. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nahm sie 2012 in den Kanon der 20 besten deutschsprachigen Schriftsteller unter 40 Jahren auf. Bislang erschienen u.a. ihre Romane ‚Unland‘ (ver.di Literaturpreis 2010, Prädikat ‚Beste 7 Bücher für junge Leser‘ (DeutschlandRadio/Focus)), ‚Schattengesicht‘ und ‚Vakuum‘ (u.a. ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass 2013).
www.wagnerantje.de
HYDE
Antje Wagners neues Buch beginnt damit, dass der Leser die gerade volljährig gewordene Katrina beim Trampen kennenlernt. Bei schlechtem Wetter mit einer schweren Erkältung geschlagen, befindet sie sich auf der Walz.
Kurze Zeit später wird sie von Josefine aufgegabelt, die als Wahrsagerin beim Radio arbeitet. Diese fährt Katrina zu einem Wirtshaus, wo sie Arbeit finden kann, um Geld für die nächste Wegstrecke zu verdienen. Dort gerät sie jedoch an einen sehr unsympathischen Wirt. Er nutzt ihre Situation aus und behandelt seine Angestellten generell schlecht.
Als die Situation eskaliert, stiehlt Katrina dessen Transporter und haut ab. Auf ihrer Flucht gelangt sie zu einem leerstehenden Haus im Wald, dass scheinbar nur auf ihre Ankunft gewartet hat. Sie findet dort einen Aushang, dass die Gemeinde einen Verwalter für das seit Jahren unbewohnte Haus sucht, das schon deutliche bessere Tage gesehen hat.
„Hyde“ umfasst zwei Handlungsstränge, zum einen die aktuelle Handlung, in der Katrina ins Haus Waldkauz verschlagen wird, wo sich einige seltsame Dinge ereignen, zum anderen führt Antje Wagner uns immer wieder in Rückblenden in Katrinas Vergangenheit.
Sie wuchs gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Zoe abgeschieden im Wald bei ihrem Vater auf. Obwohl Katrinas Erinnerungen voll Liebe zu ihrem früheren Zuhause Hyde, ihrem Vater und ihrer Schwester sind, stimmt irgendetwas an der Situation nicht…
Warum ist Hyde verschwunden, wo sind ihr Vater und ihre Schwester jetzt? Warum kann sie sich nicht mehr an alles erinnern, und was hat dazu geführt, dass sie auf einem Rachefeldzug unterwegs ist?
Antje Wagners neues Buch „Hyde“ ist das Psychogramm einer geschundenen Seele, auf der Suche nach Wahrheit und dem richtigen Weg in eine glücklichere Zukunft. Ob diese in der Erfüllung ihrer Rachepläne liegt?
Katrina wirkt sehr sperrig, manchmal unsympathisch. In Ausübung ihrer Rache empfand ich sie sogar beinahe als übertrieben kindisch. Im Laufe der Geschichte erklärt sich jedoch vieles und das Verständnis des Lesers gegenüber Katrina wächst.
Auf Grund eines Unfalls trägt Katrina ein Tuch vor ihrem Gesicht. Im übertragenen Sinne könnte man sagen, dass sich dieses Tuch sinnbildlich immer mehr lüftet und man nicht nur Katrinas entstelltes Gesicht, sondern auch ihr Innerstes zu sehen bekommt, ihre Seele, und schlussendlich nicht nur ihre.
Die zwei Erzählebenen jagen den Leser durchs Katrinas Erlebnisse. Antje Wagner hält vieles lange Zeit im Dunklen verborgen und springt an den spannensten Stellen hin und her zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Ich schätze an Antje Wagners Büchern, dass so vieles undurchschaubar und unerklärlich bleibt, bis man auf den letzten Seiten ihrer Romane von der Wahrheit aus dem Hinterhalt angesprungen wird.
Wobei man sich gerade bei diesem Buch fragen muss, was die Wahrheit ist? Hat jeder eine andere Wahrheit? Besteht Wahrheit aus mehreren Ebenen? Kann man die Wahrheit unterschiedlich auslegen?
„Hyde“ verbirgt viele Geheimnisse, die erkundet werden wollen, sowohl in Katrinas Kindheit als auch in ihrer gegenwärtigen Situation. Die Autorin behandelt Themen, die man nicht totschweigen sollte. Einiges spricht sie direkt an, anderes auf metaphorischer Ebene, was einigen Lesern möglicherweise nicht liegen mag, aber diese Interpretation regt meines Erachtens verstärkt zum Nachdenken an.
Die Auflösung der vergangenen Probleme erfolgt in klarem Schwarz und Weiß, die Erkenntnis Katrinas in der Gegenwart verschwimmt dagegen in viele Schattierungen. Gerade Leser, die alles erklärt wissen wollen, sollten während des Handlungsverlaufs auf die feinen Töne und die Bildersprache achten, damit sie vom Ende nicht vor den Kopf gestoßen werden.
Ich für meinen Teil halte das Ende, das eigentlich ein Neuanfang ist, für eines der mutigsten von Antje Wagner seit „Unland“.
Die letzte Seite – eine Anzeige – hätte es für mich nicht gebraucht. Das Ende / der Anfang wäre auch ohne diese perfekt für mich gewesen.
Sprachlich wie jedes von Antje Wagners Büchern ein Hochgenuss und Arbeit fürs Gehirn – „Hyde“ erfordert nach einem mysteriösen und spannenden Verlauf über zwei zeitliche Ebenen Kopfarbeit, die sich lohnt, da Katrinas Geschichte viel Diskussionsstoff bietet und lange nachwirkt.
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